Dies ist ein Gastbeitrag von Wilfried Plock, Leiter der Konferenz für Gemeindegründung (KfG).
Im letzten Quartal 2010 erzählten mir innerhalb von kurzer Zeit drei Älteste, dass sie ihren Dienst in der Gemeinde quittieren wollten. Die Fälle waren völlig verschieden, aber die Konsequenz war gleich: Leiter, die viele Jahre lang Führungsverantwortung in der Gemeinde wahrgenommen hatten, wollten das Handtuch werfen.
Ich glaube, es war diese Häufung der Fälle, die mich intensiv zum Nachdenken brachte. Wie kommt es, dass Leiter immer wieder überfordert sind? Welche Faktoren bringen bewährte Männer dahin, den Hirtendienst aufzugeben? Und warum finden viele Gemeinden zunehmend schwerer Älteste bzw. neue Leiter?
Die Gründe dafür sind sicherlich vielschichtig. Im Folgenden sollen einige Aspekte beleuchtet werden.
I. Innere, persönliche Ursachen
1. Schwächen in Charakter und Werdegang
Männer sind sehr verschieden. Manche neigen zur Selbstüberschätzung, andere hingegen haben immer wieder mit Minderwertigkeitsgefühlen zu kämpfen. Die einen tendieren zum Perfektionismus, während andere gerne Fünf gerade sein lassen. Solche Lecks kann man im Miteinander des Gemeindealltags nicht kaschieren. Im Gegenteil. Die Auswirkungen können fatal sein.
Immer wieder werden Männer, die selbst nie zu Jüngern gemacht wurden, zu Ältesten eingesetzt. Die unausweichliche Folge: Solche Ältesten verwalten mehr oder weniger die Gemeinde – aber sie machen keine Jünger.
2. Unfähigkeit, Kritik zu ertragen
Man sollte meinen, das würde es bei Leitern nicht (mehr) geben. Weit gefehlt. Manchen Menschen fällt es enorm schwer, Sache und Person voneinander zu trennen. Ihre Persönlichkeit ist an dieser Stelle schwach, darum fassen sie im Grunde jede Kritik als einen Angriff gegen sie als Person auf. Diese Konstellation muss über kurz oder lang zum Scheitern führen. Es liegt auf der Hand, dass Älteste nicht per se alles richtig machen. Darum ist konstruktive Kritik berechtigt, ja sie muss sogar aufrichtig erwünscht sein. Aber auch Älteste sind nur Menschen, und Dauerbeschuss ist unmenschlich.
3. Ungenügende Gemeinschaft mit Gott
Unmerklich ist die Gemeinschaft mit dem Herrn nicht mehr die verborgene Kraftquelle. Termine, Termine, Termine. Predigten, Hochzeiten, Beerdigungen. Der Artikel fürs Gemeindeblatt muss fertig werden. Die Stille Zeit wird immer kürzer. Das Gebet fällt ganz aus. Der Leiter lebt aus der Reserve. Eine Weile wird er das Rad noch drehen können, aber früher oder später wird er geistlich ausgebrannt sein.
Brüder, die stark beziehungsorientiert sind und sich im zwischenmenschlichen Bereich völlig investieren, sind besonders gefährdet. Irgendwann ist der Akku leer. Wenn Leiter hier versagen und ihren eigenen Weinberg nicht hüten (Hohelied 1,6), werden sie unweigerlich Schiffbruch erleiden.
II. Ursachen im Umfeld von Ehe, Familie und Beruf
Leiter – besonders Älteste – stehen unter Beobachtung. An sie werden viele Anforderungen gestellt. Sie brauchen unbedingt Rückendeckung durch ein intaktes Ehe- und Familienleben. Geistliche Führer dürfen ihren Dienst in der Gemeinde (oder überregional) niemals auf Kosten ihrer engsten Beziehungen tun.
Vor mir saß ein Ehepaar im mittleren Alter. Plötzlich brach es aus der Frau heraus: „Mein Mann ist mit der Gemeinde verheiratet!“ Und er widersprach ihr nicht.
Auch meine Frau und ich waren zu Beginn unserer Ehe in dieser Hinsicht leider falsch belehrt worden. Man hatte uns anhand von Matthäus 6,33 eingebläut, dass Gott sich schon um Frau und Kinder kümmern würde – wenn ich nur treu meinen Dienst verrichten würde. Kein Wunder, dass unser erstes Ehejahr das schwierigste von allen war, denn hier war eine Aussage der Schrift krass fehlinterpretiert worden! Was wird uns gemäß Matthäus 6,33 hinzugefügt werden? Nahrung, Kleidung und ein Dach überm Kopf. Aber hier ist nicht die Rede davon, dass uns auch die Zeit für den Ehepartner und für die Kinder zufallen wird. Solche Zeit fällt eben nicht zu – sie muss eingeplant werden. Als meine Frau und ich das begriffen hatten, trugen wir wöchentliche Ehe- und Familienzeiten in unseren Kalender ein. Diese Maßnahme hat uns damals sehr geholfen, und sie tut es bis heute – auch wenn unsere Kinder inzwischen erwachsen sind.
Ich möchte eines ganz stark betonen: Dass wir als Ehepaar glücklich verheiratet sind und dass unsere Kinder gläubig geworden sind, ist Gottes Gnade! Und dennoch haben wir als Ehemänner und Väter eine große Verantwortung. In den letzten Jahren musste ich wiederholt mit Brüdern sehr ernst reden, die große Pläne für ihren Dienst im Reich Gottes schmiedeten, während es in ihrer Familie vorne und hinten nicht stimmte. Auch in diesem Zusammenhang greift das Wort vom Weinberghüten (Hl 1,6). Und der Apostel Paulus mahnt in 1. Timotheus 3,5: „Denn wenn jemand seinem eigenen Haus nicht vorzustehen weiß, wie soll er für die Gemeinde Gottes sorgen?“
Wir sind keine Muster-Familie. Doch mir persönlich war das Wissen um intakte Ehe- und Familienverhältnisse schon oft Anlass zur Dankbarkeit, aber auch Quelle des Trostes und der Kraft. Ich könnte meinen Dienst nicht tun, wenn „zuhause die Mäuse auf dem Tisch tanzen würden.“
III. Ursachen im gemeindlichen Umfeld
1. Unreife Gläubige machen den Leitern das Leben schwer (und merken es nicht einmal)
Manche Gemeinden „verheizen“ ihre Leiter wie andere das Holz. Das geschieht vor allem dann, wenn die Gruppe aus vielen unreifen Gläubigen besteht. Nicht wenige Gemeinden gleichen einem großen Kindergarten. Kinder haben noch keine Reife. Sie sehen oft nur sich selbst. Wenn sie etwas wollen, dann setzen sie alles dran, um es zu bekommen. Sie machen sich keine Gedanken darüber, ob es für die ganze Familie oder gar die Allgemeinheit gut ist. Kinder sind egoistisch.
So auch in manchen Gemeinden. Da haben einige das Thema „Israel“ für sich entdeckt. Und siehe da – sie lassen keine Gelegenheit aus, bei den Leitern Israel-Predigten, Israel-Tage und Israel-Spenden einzufordern. Die einen haben das Thema „Kopfbedeckung“ auf der Agenda. Andere fordern plötzlich, dass Frauen auch die Versammlungen leiten sollten. Diese meinen, dass Geschiedene durchaus wieder in der Gemeinde getraut werden dürfen; jene fordern, dass der Name der Gemeinde keinesfalls im Internet auftauchen sollte. Usw. usw.
Damit mich niemand missversteht. Christen dürfen durchaus in all diesen Fragen unterschiedliche Erkenntnisse haben und diese auch in angemessener Weise artikulieren. Schwierig wird es immer dann, wenn Gläubige ihre Ansicht – wie kleine Kinder – mit allen Mitteln durchsetzen wollen. Kinder plärren, schmollen, werfen sich auf den Boden. Analog dazu bombardieren manche Erwachsene die Ältesten mit endlosen Gesprächen, zig Seiten langen Ausarbeitungen von ihrem „Guru“ und mit anderen unliebsamen Überraschungen. Ich selbst habe einmal miterlebt, wie ein Hirtenteam monatelang förmlich lahmgelegt wurde und für die wirklich wichtigen Dinge des Gemeindelebens buchstäblich keine Zeit mehr hatte. Und wehe, die Ältesten gehen nicht auf die Vorschläge oder Forderungen ein! Dann werden sie ganz schnell als ungeistlich gebrandmarkt und mit ätzender Kritik überzogen.
Solche Vorgänge machen Leiter mürbe. Jene brauchen sowieso eine Extra-Portion Geduld. Doch manchmal geht es über die berühmte Kuhhaut. Gegen das, was manche Führer ertragen müssen, war die 40jährige Wüstenwanderung Israels fast eine Erholungskur. In einem Telefonat gestand mir ein Bruder, der seit vielen Jahren eine hohe Position in einem renommierten deutschen Konzern bekleidet, ein: „Wenn ich meinen Einsatz im Beruf und in der Gemeinde miteinander vergleiche, so komme ich zu dem eindeutigen Ergebnis: Die Zeit in der Firma war leichter!“
Hinzu kommt, dass Gemeindeleiter nie befehlen können – sie müssen immer „bitte“ sagen. Ein General befiehlt, seine Untergebenen gehorchen. Ein Vorgesetzter in der Firma ordnet an, seine Mitarbeiter führen aus. Nicht so in der Gemeinde Christi. Älteste können immer nur bitten.
2. In manchen Gemeinden kommt es zur Lagerbildung
Leiter werden manchmal buchstäblich zwischen den Mühlsteinen zerrieben. Ich denke an eine Gemeinde, in der sich eine Gruppe dem Mainstream-Evangelikalismus öffnen will, und das andere Lager warnt davor. Wenn die Entwicklung einmal soweit fortgeschritten ist, kann man eine Spaltung kaum noch aufhalten. Leiter der unterlegenen Gruppe werfen meistens das Handtuch.
Einmütigkeit ist ein großes Geschenk, das es wie einen Augapfel zu bewahren gilt.
3. Das Kommunikationsverhalten ist in vielen Gemeinden stark verbesserungsfähig
Und zwar in beiden Richtungen. Immer wieder kommt es vor, dass Älteste zwar die Belange der Gemeinde in ihrem Kreis besprechen, dann aber die Geschwister vor vollendete Tatsachen stellen. Hirten sollen leiten. Ja doch! Aber nicht über die Köpfe der Schafe hinweg. Hier braucht es in der Tat Fingerspitzengefühl und Weisheit. Sonst entstehen schneller als wir denken und völlig unnötigerweise „Wutbürger“*
in den Gemeinden.
Umgekehrt ist es dem Gemeindeklima abträglich, wenn Christen ihre Gedanken und Befürchtungen nicht offen mitteilen. Leiter sind keine Hellseher. Sie sind auf das Feedback der Geschwister angewiesen und sollten dafür immer ein offenes Ohr haben. Der HERR weist uns darauf hin, dass „Pläne durch Beratung zustande kommen“ (Spr 20,10).
Schlussgedanken
Seit 2000 Jahren opfern Männer Zeit, Kraft und Gesundheit, um kleine und große Gemeinden nach dem Willen Gottes zu leiten. Viele dieser Hirten taten und tun das sehr erfolgreich. Dennoch kommt es hin und wieder zum Scheitern. Dieser Tatsache wollen wir ins Auge sehen.
Aber „erkannte Gefahr“ ist ja ein Stück weit „gebannte Gefahr“. Ich bete dafür, dass der treue HERR diesen Artikel gebraucht, um falsche Entwicklungen rechtzeitig aufzudecken.
* Das von der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ (GfdS) gekürte Wort des Jahres 2010, das unter anderem die Protestbewegung um das Bahnhofsprojekt „Stuttgart 21“ beschreibt. Das Wort steht für die Empörung in der Bevölkerung, “dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden”.